IV
“I want God, I want poetry, I want danger, I want freedom, I want sin.”
― Aldous Huxley, Brave New World
Warum immer die guten Seiten einer Reise hervorheben, wenn es viel authentischer ist, auch die Regentage, die stinkenden Fabriken, die mit Nebel verschleierten Hintergassen zu zeigen? Dieser Blog ist kein Konstrukt einer perfekten Welt, keine Utopie, sondern soll Illusionen nehmen.
Ich sitze im 1. Stock eines roten Doppeldeckerbusses, auf dem Weg zu
Russel Square. London ist eine Metropole mit mehr als acht Millionen Einwohnern, was im österreichischen Maßstab bedeuten würde, dass sich alle Einwohner auf einem Fleck versammeln. Hinzu kommen jedoch noch die unzähligen Pendler, die von den Außenbezirken täglich in die Stadt strömen.
Könnt ihr euch auch nur im Ansatz die Ausmaße vorstellen? Diese schier endlose Schlange von Menschen, die sich am Morgen in die
tube wälzt, an anderen Orten wieder aus den Ausgängen kriecht und die Straßen verstopft (dieses Wort ist keine Untertreibung). Sie rücken aber auch in Autos, den schwarzen
cabs und den kirschroten Bussen an - und sorgen zwischen 7 und 9.30 am und 4 und 7.30 pm für ein unvergleichliches Chaos. Wohin sie gehen? Na, zur Arbeit. Denn Möglichkeiten gibt es hier jede Menge.
Die Stadt der
opportunities - das ist London wahrhaftig. Nicht umsonst sind hier Vertreter aller Nationen versammelt, die ihr Glück versuchen wollen. Es wirkt fast so, als ob ich im New York City des 19. Jahrhunderts gelandet wäre. In den Gesichtern der Menschen steht geschrieben:
We Are Living The London Dream.
Man beobachtet Businessladies in exquisiten ledernen High Heels, enganliegenden Röcken, mit zusammengezogenen, perfekt gezupften Augenbrauen, das obligatorische Handtäschchen umklammernd, über die Straße tänzeln; man stößt auf unzählige
take out Restaurants und Shops mit Besitzern unterschiedlichster Herkunft, die ihre Waren den Vorübereilenden mehr oder weniger stolz anpreisen. Man durchstreift Märkte mit duftenden und exotischen Speisen; die feinen
interior Läden mit dem schönsten und unnötigsten Dekozeug, das man aber doch irgendwie notwendig hat; und man würde sich gerne in die überteuerten
organic food Cafés und Bars in den gewundenen Gassen in
Soho niederlassen.
Sie alle haben es geschafft -
oder?
Die Frage ist nur, ob man auch seine eigenen Möglichkeiten findet und beim Schopf packen kann? Man will einfach kein Tourist in dieser Stadt sein, sondern ein Teil dieser arbeitenden, erfolgreichen Masse werden. Den
London Dream leben.
Seit ich hier bin, habe ich in den Tiefen des Internets gegraben und nach Arbeit gesucht. Alles läuft hier über Recruiting Agencies, die zwischen Jobsuchenden und Arbeitgeber vermitteln. Sie picken die erfolgreichen Bewerber heraus und greifen ihnen unter die Arme. Daraufhin wartet man, ob man ein Interview bei der Firma bekommt. Dieser Prozess erstreckt sich jedoch über Wochen, sodass man als Bewerber ziemlich mutlos werden kann. Ich weiß, dass Menschen manchmal über Monate und Jahre hinweg arbeitslos sind. Sie suchen und suchen verzweifelt und werden einfach nicht fündig oder werden wieder und wieder abgelehnt. In meinem ganzen Leben hatte ich noch keine so ermüdende und frustrierende Aufgabe wie jener, nach Arbeit zu suchen. Es fühlt sich an wie ein Borkenkäfer, der meine Energie Stück für Stück auffrisst.
Natürlich sagt ihr, nimm doch einfach irgendeinen Job bei McDonalds an, worauf wartest du, es geht ja ums Überleben, ums Geld, oder nicht? Nein. Es geht mir um mehr. Ich möchte nach diesem Jahr sagen können, dass ich mich weiterentwickelt habe. Ich möchte die Erfahrung auskosten und zeigen, was in mir steckt. Verantwortung übernehmen. Stolz sein auf das, was ich mache.
Ist es nicht seltsam, wonach wir Menschen streben? Nachdem wir unsere niedersten Bedürfnisse gestillt haben, brauchen wir Sicherheiten, möchten wir eine soziale und berufliche Balance, wollen wir unterhalten werden, und schließlich, wenn all das nicht mehr ausreicht, bilden wir uns ein, dass wir uns selbst erfüllen müssen, um das ultimative Glück zu erreichen. Warum können wir nicht sein wie die Alphas, Betas, Gammas und Deltas in
Brave New World, die einfach stur vor sich hin arbeiten? Wir nehmen Dinge viel zu ernst und alles muss einen Sinn haben. Wir sind einfach viel zu menschlich.
Meine Welt steht im Moment still wie die roten Busse im Kreisverkehr von
St George's Circus. Ich habe das Bedürfnis, zum Busfahrer zu gehen und kräftig auf das Gaspedal zu treten, um auf die nächste, freie Straße zu gelangen. Eine lange Schlange von Menschen versperrt mir den Weg, und sie lassen mich um keinen Preis vorbei. Warten wird zur Norm und gleichzeitig zur Qual.
Mein
London Dream, wo hast du dich versteckt?