I
The Author giveth some Account of herself and Family; her first Inducements to travel.
Gulliver's Travels
Reisen beginnen immer an dem Ort, von dem aus man aufbricht. Natürlich, möchtet ihr einwerfen! Wo denn sonst? Jedoch, haltet ein: bevor man von einer Reise erzählt, müssen die Leser auch wissen, was geschah, bevor sich die Helden ins Abenteuer stürzten.
Geboren als das erste von zwei Kindern, wuchs ich in einem 400-Seelen-Ort im Nordosten Österreichs auf. Ich hatte eine behütete, glückliche Kindheit, würden Geschichtenerzähler meinen; ich würde es eine wilde, verträumte Kindheit nennen, möchte hier aber nicht zu weit ausholen. Ich liebte die Natur, die Menschen und ihre Weisen und wollte dieses Paradies nie verlassen. Allerdings war ich auch mit einem natürlichen Sinn für Neues, Unerforschtes ausgestattet.
Umgeben von dunklem Tann und fruchtigem Wein dachte niemand auch nur im Traum daran, dass ich einmal verpestete Großstadtluft schnuppern und darauf Sack und Pack schultern könnte, um meinen Horizont um ein kleines Stück zu erweitern. Sagen wir so: ich wollte meine innere Weltkarte etwas größer zeichnen, als sie war.
Jeder Reisende braucht jedoch eine Initialzündung, die ihm Feuer unterm Hintern macht und ihn nicht mehr ruhig sitzen lässt. Man könnte sagen, dass der Funke bei mir vier Jahre vor der Reise übersprang. Ich war bereits am Studium der russischen Sprache, als es sich zutrug, dass ich die Bekanntschaft einiger Ausländer machte, die in Wien ihre Zelte aufgeschlagen hatten. Auch sie wollten erkunden, neue Leute und unsere Kultur kennen lernen. Ich liebte sie, mit ihren fremden Sprachen, ihren Ansichten und für mich ungewohnten Bräuchen. Offen waren sie; offen für Alles und Jeden, offen für die Welt. Und so wollte auch ich sein. Die vermeintliche Großstadt schien plötzlich wie ein Mauseloch; das Heimatdorf wie ein Nadelöhr.
Einer dieser Ausländer wurde zu meinem besten Freund. Ich bewunderte seine außergewöhnliche Begabung, auf Menschen zuzugehen, um daraufhin von diesen ins Herz geschlossen zu werden. Er zeigte mir Welten auf, die meinem Auge bisher verborgen geblieben waren und eröffnete mir, dass ich selbst zu mehr fähig war, als mir bewusst gewesen war.
So kam es, dass ich diesem wunderbaren Menschen mein Herz schenkte. Und was tat er? Er packte es in seinen Koffer und ging zurück auf die Insel, von der er gekommen war. Zuvor versprach er jedoch, zurück kommen zu wollen, um mich abzuholen und mir seine Welt zu zeigen. Solange mein Herz auf Reisen war, fühlte ich mich wie in einem Kleiderschrank gefangen. Ich hatte das Versprechen meines Freundes, mich abholen zu wollen, bereits verdrängt, als er nach einem Jahr zurückkam. Ich sah nur ihn, liebte die Stadt und die Menschen und wollte mit ihm hier alt werden - nicht weit entfernt von meinem kleinen, heimatlichen Paradies. Die Situation bot mir Sicherheit und inneren Frieden.
Eines Morgens blickte ich in den Spiegel und bemerkte, dass meine Milchzähne ausgefallen waren. An deren Stelle waren Ansätze von großen, starken, erwachsenen Zähnen getreten. Das Ende des Studiums bedeutet gleichzeitig das Ende eines Lebensabschnittes - der hinausgezögerten Kindheit. Wie glücklich darf sich meine Generation schätzen, dass wir mehr Zeit haben die Welt zu erkunden, als unsere Vorfahren!
An diesem Tag sagte mein Freund, dass es Zeit war, auf seine Insel zurück zu kehren, um neue Wege zu erforschen und von den Meistern zu lernen. Er fragte mich im selben Atemzug, ob ich ihn nicht begleiten wolle?
Es war meine Entscheidung. Ich konnte bleiben und Freunde und Familie behalten. Mich in meinem Paradies anketten und daraufhin zu Grunde gehen. Es war meine Wahl. Ich sah mich mit 90 Jahren in meinem Totenbett liegen - voller Gram, dass ich damals nicht fortgegangen war.
Und so willigte ich ein. Die Abreise schien in endloser Ferne zu liegen. Doch lass dich nicht täuschen! Du musst früh genug Abschied nehmen, und mit der Vorfreude zieht auch die Melancholie einher. Zweifel häufen sich. Versagen und Erfolg sind schließlich nur einen Steinwurf voneinander entfernt, hast du gelernt.
Aber die Abenteuerlust hat dich in ihren Fängen und du bist bereit, jegliche Risiken in Kauf zu nehmen.
Und dann nahm ich den letzten Zug von der Großstadt ins Paradies, um nach meinen Freunden auch die Familie zu verabschieden. Alle Sinne waren geschärft; ich nahm jede Sekunde wahr, jedes Landschaftsbild. Mein Körper befand sich im Ausnahmezustand; mein Kopf hämmerte leicht - nach einer Reihe von langen Nächten und der regelmäßigen Alkoholzufuhr. Wie blau kann der Himmel sein, wie sanft die rolling hills, wie warm die milde Augustsonne auf meiner Haut?
Was ist Heimat?, fragte ich mich. Ein Ort, der gespickt ist mit Erinnerungen und ein angenehmes Prickeln auf der Haut hervorruft, sobald der Zug die letzte Kurve erreicht hat, sagte ich mir.
Mein Hals wurde eng, als ob ihn jemand zuschnürte; die Mundwinkel zogen hoch und die vermaledeite und höchst unnötige Tränendrüse kam zum Einsatz. Aber es tat gut, loszulassen und wie ein Kind zu heulen.
Mit den Tränen stellte sich auch ein angenehmes Gefühl ein: du merkst, dass du schätzst, was du hast und freust dich auf das neue Abenteuer.
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