Friday 30 August 2013

Beobachtungen eines kulinarischen Feinspitzes



II

The Author is shipwrecked, and swims for her Life; gets safe on shoar in the Country of Lilliput; is made a Prisoner, and carried up the Country.

Gulliver's Travels


Das Schiff (Flugzeug) ist zumindest in meiner Geschichte nicht untergegangen (abgestürzt). Eingesperrt wurde ich bisher auch noch nicht, die Briten sind ein eher friedliebendes Volk. Es gibt aber doch wieder Gemeinsamkeiten mit Gulliver's Reisen: ein Stadtteil meiner vorübergehenden Bleibe in Poole trägt den Namen Lilliput!

Hier bin ich also gelandet, im Reich der höflichsten und wohl auch konsumgeilsten Nation auf diesem Globus. Eines ist klar: wäre ich nicht schon mal hier gewesen, wäre der Kulturschock etwas schlimmer ausgefallen.
The British lieben es, ihrem kapitalistischen Trieb freien Lauf zu lassen. Man fühlt sich beinahe schlecht, wenn man an einem Tag nichts kauft und kein Teil dieser die High Street hinunterströmende, Einkaufswagerl anfüllenden Masse ist. Es wäre falsch zu sagen, dass der Massenkonsum nicht auch Österreich in der Hand hat. Shopping scheint in Britannia jedoch eine Art Volkssport zu sein. 

Tesco - ein Gang ist so groß wie ein ganzer Billa.
Und das Paradies aller ist natürlich Tesco - eine Supermarktkette, die teilweise riesige Grundstücke aufkauft, um den Konsumenten die größtmögliche Einkaufsfläche zu bieten. (Es gibt aber auch die kleinen Tescos, die manchmal in ehemaligen Kirchen (!) untergebracht sind. Ja, die Kirche hat hier seit Henry VIII. einen geringen Stellenwert.)
Die enormen Parkplätze vor den großen Tescofilialen sind fast immer voll. Betritt man den Megamarkt, befindet man sich schlagartig in einer anderen Welt: Die britischen Einkaufswagerl sind doppelt so groß wie die österreichischen, aber sie sind bei 60 Prozent der shopper bis obenhin angefüllt. Und wagt man einen Blick auf die Regale, bleibt einem buchstäblich die Spucke weg. Man geht staunend einen mindestens hundert Meter langen Gang entlang, biegt beliebig rechts oder links ab und auf beiden Seiten eröffnet sich einem eine Produktauswahl ungeahnter Größe. 

Ich habe sie nicht gezählt, aber ich denke, dass das Chips-Angebot bei weitem die Varietät aller anderen Produkte übertrifft. Oja, es ist kein Vorurteil - die Briten stehen auf ihre gesalzenen, gepfefferten, geessigten, mit den undenkbarsten Dingen gewürzten oder getunkten, in verschiedenen Verfahren herausgebrutzelten Kartoffelscheiben (crisps). Wie wunderbar, es gibt sie ja auch in kleinen, praktischen Lunchpäckchen! Am besten gekauft in einem mealdeal, zusammen mit dem obligatorischen Sandwich, das in Mayonnaise ertränkt und auf jeden Fall Speck oder eingelegte Zwiebel (pickled onions) enthält. 
Eine gesündere Variante des "mealdeals"
Natürlich übertreibe ich jetzt ein wenig. Das fettige Britain, das wir kennen, löst sich langsam aus seiner Rolle, zumindest was die obere und Mittelklasse betrifft (die weniger gebildeten sozialen Schichten setzen weiterhin auf billigste, zuckrige und fetttriefende Ernährung). Die Bio-Schiene ist zwar noch nicht so groß wie in Österreich, greift jedoch langsam; Cafés bieten wieder mehr homemade an und man sieht viele Radfahrer, Jogger und andere Freizeitsportler. Mir scheint, der TV-Koch Jamie Oliver hat doch einen großen Anteil an dieser Entwicklung. Ich habe gehört, dass durch ihn das Essen in den Schulkantinen vollkommen umgestellt wurde und Schüler nicht mehr nur Pommes Frites als Gemüseersatz zu essen bekommen.

Die Briten werden oft zu unrecht von uns Kontinentaleuropäern wegen ihrer Kochperformance ausgelacht und kritisiert. Zugegeben, es gibt immer noch viel zu viele Fertigprodukte, zu viel und zu kalorienreiches Essen auf den Tellern in den Kettenrestaurants. Und ja, 2011 waren fast 25 % aller erwachsenen Briten fettleibig. Ein großes Ernährungsproblem gestaltet sich nicht nur durch die große Auswahl, sondern auch durch den Stress, dem viele Berufstätige ausgesetzt sind. Die Karriere hat hier einen hohen Stellenwert und darum wird zu Mittag eher schnell und wenig und am Abend zu viel und zu ungesund gegessen. Aber - und das ist positiv - es gibt definitiv einen Gegentrend. Viele Menschen kochen wieder frische Mahlzeiten, essen gemeinsam mit der Familie und genießen ihre Nahrung.

Sunday Roast (kann auch unter der Woche verzehrt werden)
Und sie haben ihre traditionelle Küche nicht vergessen. Sunday Roast ist wie der obligatorische österreichische Schweinsbraten am Sonntag: Rinds- oder Hühnerbraten, serviert mit den weltbesten Bratkartoffeln, Karotten, Erbsen und den süßlich genialen Pastinaken. Das Ganze wird durch den yorkshire pudding (im Grunde Palatschinkenteig in einer lustigen Form) und dunkle Bratensauce herzhaft abgerundet. Man sollte auch unbedingt Sheperd's Pie versuchen, einen faschierten Auflauf mit Püree und Käse überbacken. Diese pies gibt es in allen Varianten: fischig, fleischig oder vegetarisch. Ich liebe die alten, traditionellen britischen pubs mit ihrem großen Angebot an cider (vergorener Fruchtsaft), ale und frisch zubereitetem, köstlichen Essen.

Und das war erst der Anfang! Habt ihr erst mal die duftenden Cornish pasties probiert, seid ihr nur mehr einen Schritt davon entfernt, ein British Food-Liebhaber zu werden! Ich persönlich könnte mich ja in einem Berg aus scones und shortbread eingraben - aber ein netter cream tea tut's eigentlich auch: man nehme einen ofenfrischen, noch warmen scone, schneide ihn in zwei Hälften und bestreiche ihn mit clotted cream (eine Mischung aus Schlagobers und Butter) und Beerenmarmelade. Dazu kommt das Nationalgetränk, das ich - oh Schreck - noch gar nicht erwähnt habe!
Cream Tea (ohne Tee)
Wenn es etwas gibt, ohne das die Briten nie leben wollten, wäre es nicht ihr mobile (Handy), ihr telly (Fernseher) oder ihre geliebten crisps. Es ist TEA, der, wie wir alle wissen, den Insulanern spätestens seit Asterix und Obelix unheimliche Kräfte verleiht. Ein großzügiges Schlückchen Milch in den Schwarztee verleiht dem Getränk ein kaffeeähnliches Aussehen - and you're good to go! Wie man weiß, ist auch die Queen begeisterte Teetrinkerin. Sie hat sogar eine eigene Hausteemarke - Twinings, die auch wir Alpenländler kennen. Der magische Drink wird übrigens wirklich zu jeder Tages- und Nachtzeit getrunken. Ich mag diese Teezeremonien: die Familie kommt zusammen, aktuelle Ereignisse werden besprochen; man wird innerlich ruhiger und fasst wieder Mut. Ich bin ehrlich dankbar, wenn es durchs Haus schallt: "Tea anybody??". Wenn ich es allerdings wagen sollte, Tee ohne Milch zu bestellen, sehen sich alle vielsagend an: Ausländerin!

Curry - das Nationalgericht Englands
Man bekommt in England so gut wie alles zu kaufen, denn dieses Land ist definitiv globaler ausgerichtet als das konservative Österreich. Es gibt eine riesige Auswahl an internationaler Küche. Liebhabern der indischen Küche werden die Augen über gehen und sie werden die Zungen aus den Mündern recken, weil ihnen bewusst wird, wie verdammt mild indische Gerichte in Österreich doch gewürzt sind. 
Es hat auch Vorteile, auf einer Insel zu wohnen: frischer Fisch aus dem Meer ist um einiges billiger zu bekommen, als in unserem kleinen Binnenland. Um alle Köstlichkeiten zu beschreiben, die ich in diesem Land liebgewonnen habe, bräuchte ich auf alle Fälle noch zwei weitere Stunden. Deshalb schlage ich vor, mich doch zu besuchen, um mehr über die gute britische Küche zu erfahren. Ich habe glücklicherweise auch meinen eigenen Schatz an Rezepten mitgebracht und kann so den eher unangenehmen Seiten der englischen Küche ein Schnippchen schlagen. Seit ich hier bin, hat die Brotmaschine schon kräftig rotiert und unglaublich gutes Vollkornbrot produziert.  Trotzdem - man muss sich schon mal daran gewöhnen, dass die Brotkruste hier nie so knusprig sein wird wie zu Hause.

In a nutshell, geht es mir kulinarisch besser als viele wahrscheinlich befürchtet haben. Nichtsdestotrotz erwarte ich bei etwaigen Besuchen Koffer voller Schwarzbrot, gutem österreichischen Wein, echten Würsteln und Meinlkaffee (die schwarze Brühe hier ist nicht als Kaffee zu bezeichnen).


















Monday 26 August 2013

Eine Reise beginnt



I

The Author giveth some Account of herself and Family; her first Inducements to travel. 

Gulliver's Travels



Reisen beginnen immer an dem Ort, von dem aus man aufbricht. Natürlich, möchtet ihr einwerfen! Wo denn sonst? Jedoch, haltet ein: bevor man von einer Reise erzählt, müssen die Leser auch wissen, was geschah, bevor sich die Helden ins Abenteuer stürzten.

Geboren als das erste von zwei Kindern, wuchs ich in einem 400-Seelen-Ort im Nordosten Österreichs auf. Ich hatte eine behütete, glückliche Kindheit, würden Geschichtenerzähler meinen; ich würde es eine wilde, verträumte Kindheit nennen, möchte hier aber nicht zu weit ausholen. Ich liebte die Natur, die Menschen und ihre Weisen und wollte dieses Paradies nie verlassen. Allerdings war ich auch mit einem natürlichen Sinn für Neues, Unerforschtes ausgestattet.
Umgeben von dunklem Tann und fruchtigem Wein dachte niemand auch nur im Traum daran, dass ich einmal verpestete Großstadtluft schnuppern und darauf Sack und Pack schultern könnte, um meinen Horizont um ein kleines Stück zu erweitern. Sagen wir so: ich wollte meine innere Weltkarte etwas größer zeichnen, als sie war.

Jeder Reisende braucht jedoch eine Initialzündung, die ihm Feuer unterm Hintern macht und ihn nicht mehr ruhig sitzen lässt. Man könnte sagen, dass der Funke bei mir vier Jahre vor der Reise übersprang. Ich war bereits am Studium der russischen Sprache, als es sich zutrug, dass ich die Bekanntschaft einiger Ausländer machte, die in Wien ihre Zelte aufgeschlagen hatten. Auch sie wollten erkunden, neue Leute und unsere Kultur kennen lernen. Ich liebte sie, mit ihren fremden Sprachen, ihren Ansichten und für mich ungewohnten Bräuchen. Offen waren sie; offen für Alles und Jeden, offen für die Welt. Und so wollte auch ich sein. Die vermeintliche Großstadt schien plötzlich wie ein Mauseloch; das Heimatdorf wie ein Nadelöhr. 
Einer dieser Ausländer wurde zu meinem besten Freund. Ich bewunderte seine außergewöhnliche Begabung, auf Menschen zuzugehen, um daraufhin von diesen ins Herz geschlossen zu werden. Er zeigte mir Welten auf, die meinem Auge bisher verborgen geblieben waren und eröffnete mir, dass ich selbst zu mehr fähig war, als mir bewusst gewesen war.
So kam es, dass ich diesem wunderbaren Menschen mein Herz schenkte. Und was tat er? Er packte es in seinen Koffer und ging zurück auf die Insel, von der er gekommen war. Zuvor versprach er jedoch, zurück kommen zu wollen, um mich abzuholen und mir seine Welt zu zeigen. Solange mein Herz auf Reisen war, fühlte ich mich wie in einem Kleiderschrank gefangen. Ich hatte das Versprechen meines Freundes, mich abholen zu wollen, bereits verdrängt, als er nach einem Jahr zurückkam. Ich sah nur ihn, liebte die Stadt und die Menschen und wollte mit ihm hier alt werden - nicht weit entfernt von meinem kleinen, heimatlichen Paradies. Die Situation bot mir Sicherheit und inneren Frieden.

Eines Morgens blickte ich in den Spiegel und bemerkte, dass meine Milchzähne ausgefallen waren. An deren Stelle waren Ansätze von großen, starken, erwachsenen Zähnen getreten. Das Ende des Studiums bedeutet gleichzeitig das Ende eines Lebensabschnittes - der hinausgezögerten Kindheit. Wie glücklich darf sich meine Generation schätzen, dass wir mehr Zeit haben die Welt zu erkunden, als unsere Vorfahren!
An diesem Tag sagte mein Freund, dass es Zeit war, auf seine Insel zurück zu kehren, um neue Wege zu erforschen und von den Meistern zu lernen. Er fragte mich im selben Atemzug, ob ich ihn nicht begleiten wolle?
Es war meine Entscheidung. Ich konnte bleiben und Freunde und Familie behalten. Mich in meinem Paradies anketten und daraufhin zu Grunde gehen. Es war meine Wahl. Ich sah mich mit 90 Jahren in meinem Totenbett liegen - voller Gram, dass ich damals nicht fortgegangen war.

Und so willigte ich ein. Die Abreise schien in endloser Ferne zu liegen. Doch lass dich nicht täuschen! Du musst früh genug Abschied nehmen, und mit der Vorfreude zieht auch die Melancholie einher. Zweifel häufen sich. Versagen und Erfolg sind schließlich nur einen Steinwurf voneinander entfernt, hast du gelernt.
Aber die Abenteuerlust hat dich in ihren Fängen und du bist bereit, jegliche Risiken in Kauf zu nehmen.
Und dann nahm ich den letzten Zug von der Großstadt ins Paradies, um nach meinen Freunden auch die Familie zu verabschieden. Alle Sinne waren geschärft; ich nahm jede Sekunde wahr, jedes Landschaftsbild. Mein Körper befand sich im Ausnahmezustand; mein Kopf hämmerte leicht - nach einer Reihe von langen Nächten und der regelmäßigen Alkoholzufuhr. Wie blau kann der Himmel sein, wie sanft die rolling hills, wie warm die milde Augustsonne auf meiner Haut?
Was ist Heimat?, fragte ich mich. Ein Ort, der gespickt ist mit Erinnerungen und ein angenehmes Prickeln auf der Haut hervorruft, sobald der Zug die letzte Kurve erreicht hat, sagte ich mir.
Mein Hals wurde eng, als ob ihn jemand zuschnürte; die Mundwinkel zogen hoch und die vermaledeite und höchst unnötige Tränendrüse kam zum Einsatz. Aber es tat gut, loszulassen und wie ein Kind zu heulen.

Mit den Tränen stellte sich auch ein angenehmes Gefühl ein: du merkst, dass du schätzst, was du hast und freust dich auf das neue Abenteuer.