Tuesday 1 July 2014

Poppies



XIV



"Ich nahm mir vor, das Rapsfeld mit den Mohnblumen zu fotografieren, bevor ich wieder nach London aufbrach. Während das intensive Neongelb mit seinem ebenso durchdringenden Aroma schon seit zwei Monaten verblüht war, sprossen nun überall zarte rote Blumen hervor. Ich erinnerte mich an das Mädchen, das vor langer Zeit durch das Feld gestürmt war und sich Mohn ins Haar gesteckt hatte."


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Juni war immer schon mein Lieblingsmonat gewesen – was vor allem an den Gerüchen, die in der Luft umherschwirren und den durchaus angenehmen Attributen wie dem makellos blauen Himmel lag. Schwüle Tage sind erfüllt mit erdrückend-reifenden Weizenfeldern, zart duftender Pfingstrose und Liguster, beruhigender Lindenblüte und süßlicher Akazie; dem leicht modernden Mief von Seewasser und langsam austrocknendem Gras; als Krönung des Tages wandert der höhlenmenschliche Rauch von brutzelndem Fleisch in unsere Nasenhöhlen, den wir fortschrittlichen homo sapiens sapiens beinahe zwanghaft reproduzieren, um uns doch noch ein Stückchen Wildnis zu erhalten.

Warme Sonnenstrahlen legen sich auf die Haut, die man mit einer wohlriechenden Sonnenlotion einreibt – was einen schlagartig in den Süden versetzt. Unmenschlich süßer Saft tropft aus abgebissenen Erdbeeren und Kirschen auf mein T-Shirt. Meine Füße dürfen wieder Luft schnappen und die trockene Härte der Erde fühlen. Der Wind bringt weitere Aromen von unbekannter Herkunft, deren Komplexität unser Gehirn gar nicht verarbeiten kann. Gegen Abend erdrückt uns plötzlich eine Masse an heißer Luft, die uns den Schweiß aus den Poren treibt und unweigerlich gen Himmel blicken lässt. Ein Grollen bestätigt uns das herannahende Gewitter, das mit einer furchterregenden Stille aufwartet, bevor es den erlösenden Schwall entlässt und wir die vermeintlich gesäuberte, doch regenbehaftete weinende Luft in uns aufsaugen dürfen.

Diese Erinnerungen kommen in mir hoch, als ich aus dem Flugzeug steige. Ich lasse mich nur zu gerne einlullen in diesen besoffenen Schleier aus Gerüchen; kann nicht widerstehen, als sie mich bezirzen und umgarnen; viel mehr noch will ich in ihnen ertränkt werden.

Wie der Mohn, der bald seine hauchdünnen Blüten verlieren wird, ist auch der Juni nur von kurzer Dauer, und mit ihm der Sommer, welcher unvermeidlich sterben muss. Mein Besuch ist von derselben Natur – ich öffne einen Sack mit vertrauten Gerüchen und Stimmen aus der Vergangenheit und bevor ich vollends darin versinken kann, wird mir der Sack weggeschnappt und fest verschlossen.

Ich höre, wie die Stimmen lachen und sich am Leben erfreuen und obwohl ich während meines Besuchs von Freunden und Familie vollständig integriert werde rutscht der Gedanke sie zu verlassen wie ein Stein in meinen Magen. Es ist, als ob ich eine neue Identität angenommen hätte; als ob ich plötzlich ein Doppelleben führte. Was hat mich wann denn innerlich so zerrissen? London ist mir mit ungeahnter Intensität ans Herz gewachsen; doch berühren meine Füße österreichischen Boden, will ich erneut ein Teil davon sein. Ich habe nie verstanden, wie manche Menschen zwei oder mehrere Heimaten haben können (wobei das Wort Heimat ja eigentlich singular ist). Nun habe ich für mich selbst den Beweis erbracht, dass es eigentlich nichts mit dem Grund und Boden zu tun hat, auf dem man wandert. Es geht viel mehr um die uns umgebenden Menschen, um Lebensumstände und um Erinnerungen, die wir gemacht haben und machen werden: Deshalb kontrastiert das Konzept der alten Heimat, in welcher langjährige gute Freunde, vertraute Orte, Gerüche und längst vergessene Gedanken auf mich warten, so krass mit dem Konzept der neuen Heimat. Auch dort möchte ich meine neuen Freunde und die Großstadt mit den unendlichen Möglichkeiten um keinen Preis missen. 

Auch wenn es nun so klingt, als wäre diese Zerrissenheit eine erdrückende Bürde, die mich irgendwann in die Knie zwingen wird, empfinde ich es doch als unendliches Privileg, das Beste aus beiden Säcken wählen zu dürfen.

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Nebenbei verdient noch ein anderer erheitender Aspekt Erwähnung. Im Ausland zu leben bedeutet auch, in die Rolle des Wolfs im Schafpelz schlüpfen zu können. Es ist mir nämlich ein besonderer Spaß, die alte Heimat bei einem Besuch als Außenstehende zu analysieren. Ich fühle mich beinahe wie eine Antropologin auf Feldstudie, welche die Einheimischen und ihre Gebräuche erforscht. Ich ertappte mich ständig dabei, wie ich Vergleiche anstellte und Dinge hinterfragte, die mir zuvor normal erschienen.

Dieses Mal fiel mir vor allem auf, dass sich viele meiner Freunde inzwischen ins Arbeitsleben eingefügt haben. Diese Entwicklung kam ja nicht gerade überraschend. Wir sind älter geworden, haben die studentenhafte Sorgenlosigkeit abgestreift und müssen alle früh raus zur Arbeit. Wenn hier auch ein bisschen Sentimentalität mitschwingt, denke ich, dass uns der Einzug der realen Welt gut getan hat. Die hart arbeitende Generation unserer Eltern ermöglichte es uns, die Kindheit durch das Studium zu verlängern. So sind wir zwar noch am Anfang unserer Karrieren, dafür haben wir aber umso mehr vor: wir wollen nicht nur einen sicheren, sondern vor allem einen erfüllten Job; wir wollen die Welt verändern und einflussreich sein. 

Möge uns unser aufgeblasenes Ego nicht im Wege stehen, wenn wir Enttäuschungen erleben; mögen wir durch Fehler und Verluste noch viel höher aufsteigen und lernen, dass alle anderen vor den gleichen Schwierigkeiten stehen – egal welchen Euphemismus Facebook an den Tag legt.