Friday 15 November 2013

Morbus Helveticus


VII


I miss the city I love but I've been having an affair
With L.A and New York, Dundee
And Doncaster if I may dare
Of course I do, of course I do
But I was meant for this place, and I was meant for you

 The Opener by The Courteeners



Der Bus hält am Flughafen Schwechat, um die letzten Kilometer in meine Stadt zurückzulegen. Es scheint, als ob es der Busfahrer selbst nicht erwarten kann, in Wien anzukommen, so fest tritt er auf das Gaspedal. Nach einer langen, harten Nacht am Stansted Airport durchflutet mich eine hungrige und grantige Übelkeit. Der Fußboden war doch auch schon einmal weicher.

Was wird in mir drinnen geschehen, wenn ich all die geliebten Orte wiedersehe? Im Moment sind wir auf der ach-so-langweiligen-und-ewig-gleichen Autobahn, passieren die Raffinerie, DEN Meilenstein vor der Stadt. Der Wind peitscht gegen die verdreckten Fenster. Mein Kopf steckt im weichen blauen Nackenpolster wie in einem Schraubstock und ruht auf dem grässlich gelb-orangen Vorhang. Ich lasse das Buch auf meinen Schoß sinken, schließe die Augen und hole mir verdrängte Bilder in den Kopf. Ein Lächeln spielt auf meinen Lippen und meine Nase rümpft beim angenehmen Geruch von Ölprodukten, der aus der Raffinerie dringt. Mein rechtes Bein überschlägt das linke und mein Blick konzentriert sich auf die nasse Straße.

Mir wird plötzlich bewusst, wie sehr London es geschafft hat, mich an sich zu gewöhnen. Mein Verstand hat akzeptiert, dass der Körper versetzt wurde - wie eine Schachfigur auf einem riesigen Spielfeld - und gibt ihm zu verstehen, sich anzupassen. Das bezieht sich nicht nur auf die großen, lauten Ausmaße, sondern auch auf winzige Dinge wie das wertvolle Wissen, an welcher Stelle man in den Overground steigen muss, um zeiteffizient am Ziel auszusteigen. These things take time.

Auf einmal freue mich auf ein Wurstsemmerl mit Essiggurkerl, das ich mir im Billa am Praterstern kaufen werde. Mein Bus fährt an den Gasometertürmen vorbei, tuckert über die Stadionbrücke und bringt mich endlich nach Erdberg. Die Ubahnstationen sind so unglaublich nah aneinander und ich lausche aufgeregt dem Wiener Gemunkel der Passagiere. Den Verkäufer im Supermarkt muss ich zweimal fragen was er gesagt hat, weil ich nicht daran gewöhnt bin eine deutsche Antwort zu erhalten. Da ist der Ströck auf der Landstraße, der Handyshop am Radetzkyplatz, die Sandler vor dem Pratersterngebäude. Die schmutzige, aber charmante Donau.

Wie erwartet, erleide ich an diesem Wochenende einen Frischluftschock; ich bleibe strikt österreichisch und genieße Glühwein, Gansl und strahlenden Sonnenschein in den hügeligen Weinbergen. Die Stille ist fast erdrückend, aber für die Ohren klingt sie wie ein Geplänkel auf einer spanischen Gitarre. Die Dunkelheit in meinem Dorf ist schwärzer als Kohle und erschrickt mich wie eine Katze, die aus einer Seitenstraße hervorspringt. Und mein Kater überwindet seine Ängste und folgt uns beim nächtlichen Spaziergang, als ob er verhindern will, dass ich gleich wieder abhaue.

Sonntag Abend ist am schlimmsten. Ich habe jede Sekunde aufgesogen, wie man auch die letzten Reste Alkohol mit dem Strohhalm aus einem Glas Mojito saugt und wie man verzweifelt einen Kaugummi kaut, um die letzten Reste Aroma aus ihm herauszupressen. Ich möchte die Momente mit meinem geistigen Auge einfangen, um später daran nagen zu können, wie ein Hund an seinem geliebten Knochen. Hatte ich schon verdrängt, dass Distanz vergessen lässt, wie sehr man gewisse Menschen liebt? Die Sache ist die: man vermisst jene erst dann, wenn man sie wieder in die Arme geschlossen hat und feststellt, wie sehr man sie braucht.

Eine Fahrt durch Wiens Straßen erzeugt ein Kribbeln am ganzen Körper, eine Gänsehaut die man bekommt, wenn eine Violine leise im Hintergrund spielt. Die alte rot-weiße Straßenbahn ist mein liebstes Fahrzeug und bringt mich zu Orten voll von Emotionen und Erfahrungen. Bald frohlockt die Ferne wieder und ich lasse meinen Rucksack auf den Sitz des Busses nach Bratislava fallen. So leicht lässt sie sich jedoch nicht abwerfen, die gute alte Heimat. Ihre Rufe werden nicht verhallen, wie weit man auch von Zuhause entfernt ist.